Wer weiß schon, dass Marshmallows, die so fluffig-süß und künstlich anmuten, keine moderne Nascherei sind und nicht immer aus Zucker, Eischnee, Aroma- und Farbstoffen bestanden? Der Ethnobotaniker und Kulturanthropologe Dr. Wolf-Dieter Storl erklärt uns während einer Seminarreise in der nördlichen Toskana, wo die Süßigkeit ihre „Wurzeln“ hat: Ursprünglich drehte man einen Teig aus der Wurzel des echten Eibischs über dem Lagerfeuer, oder röstete den Schleim der Malvenwurzel. Wegen solch schöner Pflanzengeschichten haben wir uns mit dem Auto über kurvenreiche, enge und schottrige Bergpässe bis nach Il Doccione geschleppt.
In der Bergkette zwischen Florenz und Rimini, in der Nähe des Nationalparks Foreste Casentinese und in Hörweite eines Wolfsrudels, liegt eine wahre Oase des Selbstversorger-Daseins. Unsere Gastgeber Renate und Andreas betreiben hier ökologische Landwirtschaft und teilen ihren kleinen Dornröschen-Gutshof mit naturliebenden Urlaubern.
Unser erster Seminartag beginnt mit einer Wanderung. Wir schultern unsere Rucksäcke, gefüllt mit Wasserflaschen, Proviant, Isomatte, Jacke, Schreibwerk und – wichtig – Schokolade. Wolf-Dieter Storl hat eine Stofftasche mit Stapeln von Notizzetteln umgehängt und trägt in der Hand die Hälfte eines Hirschgeweihs. Die Notizzettel sind zum Nachschlagen in seinen eigenen Recherchen und das Geweih ist zum Ausgraben von Pflanzen. Mehr braucht er nicht. Wir schauen uns um. Die anderen 26 Teilnehmer gehen genauso auf Nummer sicher wie wir, alle sind bis an die Zähne mit möglicherweise nützlichen Überlebensutensilien bewaffnet. Aber eine Wanderung mit Wolf-Dieter ist eher ein ruhiges Schlendern von Pflanze zu Pflanze, mit sehr langen Pausen, in denen er Geschichten erzählt.
Wir lauschen gespannt und können nicht genug bekommen. Wir erfahren, wann das Maifest ursprünglich gefeiert wurde. Nicht nach Kalender, sondern wenn die Blüte im Mai in den Vollmond fällt. Wir hören, dass in Afrika das Anspucken als Hallo sagen gemeint ist und Lebensenergie übertragen soll. Wir staunen, wie der Heuschnupfen entstand (in der naturentfremdeten, besseren Gesellschaft des 19. Jahrhunderts) und welche Ursache man einmal dafür annahm (die Ausdünstung der Feldhasen). Zwischendrin schmecken wir die Samen der Wilden Möhre und die Blätter der Vogelmiere, widmen uns den Heilkräften des Wasserdosts und des Odermennings. Ah, es gibt einen Trick, wie man den echten vom falschen Ackerschachtelhalm unterscheidet. Sowas, die Blätter des Breitwegerichs schmecken wie Steinpilzsuppe, echt jetzt? „Druide“ bedeutet „Eichenwissender“ und die Eiche ist der echte, indogermanische Weltenbaum (nicht die Esche). Mensch, von was wir alles keine Ahnung haben.
Hungrig beißen wir in unsere Käsebrote, um für die Baummeditation gewappnet zu sein. Die Kursteilnehmer verstreuen sich im Wald. Jeder sucht sich seinen Baum, um darunter zu sitzen und Kraft zu sammeln. Hier gibt es so viele uralte Kastanienriesen und knorrige Eichen, wir wissen gar nicht, wohin wir schauen sollen. Der Wald beeindruckt uns. Weit und breit kein wirtschaftlich rentables Nadelgehölz wie zu Hause. Es ist ein bunter Herbsthexenwald mit Baumwesen. Wir finden eine alte Kastanie, setzen uns zu ihren Füßen hin und genießen ihre Nähe. Nein, keine Elfen und keine Devas schenken uns Beachtung, die Baumerleuchtung lässt noch auf sich warten. Aber wir ahnen, dass jeder Baum seine Eigenschaften hat, in die man sich sehr wohl vertiefen kann.
Am Abend lungern wir vor dem Haupthaus von Doccione herum und genießen den atemberaubenden Blick auf unverbaute Berge. Vom Abendessen erwarten wir hier in der Pampa nicht viel, bis uns ein vorzügliches drei Gänge Menü überrascht. Wir spüren die Herzlichkeit unserer Gastgeber Renate und Andreas, die vor zwanzig Jahren aus Berlin ins Vallesanta kamen und den Gutshof renovierten. Sie bieten unserer Seminargruppe an, ein kleines Konzert zu geben. Wir denken: Gut, ein bisschen halbgare Hausmusik kann nicht schaden. Was wir dann erleben ist ein leidenschaftlich spielendes Folklore-Trio aus Geige, Kontrabass und Gitarre, das uns völlig in seinen Bann schlägt: Vallesanta Corde. Mazedonische, türkische und jüdische Melodien, gepaart mit Tango und Swing, erobern unsere wackelnden Hüften. Landwirtschaft, Gästehaus und Musik auf Weltniveau – wie machen sie das alles? Später am knisternden Lagerfeuer sitzend, nehmen wir uns vor, vielfältiger zu werden!
Eine Woche geht zu schnell vorbei. Wir haben so viel über die Karde, den Beifuß, den Holunder, den Huflattich, die Pestwurz, die Eiche, den Baldrian, den Beinwell, das Eisenkraut und so viele andere tolle Pflanzen gelernt. Trotzdem haben wir das Gefühl, wir könnten ewig weiter mit Wolf-Dieter durch die Wälder streifen und seinen Geschichten lauschen. Vorausgesetzt die Schokolade geht nicht aus.
20. November 2014 um 16:00
Hallo Kirsten, bin soeben auf Deinen Blog gestossen mit dem Bericht unserer magischen Doccione Woche – schön geschrieben und tolle Fotos, hab mich richtig gefreut! Werde auch Deine anderen Beiträge mit Interesse lesen. Liebe Grüsse nach Bayern
Susanne aus der Schweiz
LikeLike
21. November 2014 um 12:46
Liebe Susanne,
das freut mich sehr! Es war wirklich eine tolle Erfahrung!
liebe Grüße aus Bayern zurück, Kirsten
LikeLike
Pingback: Abfallzauber mit Komposthaufen | traum selbstversorger