So, wir haben es jetzt verstanden: Wenn Menschen mit dicken Teleobjektiven in Sichtweite des Hauses herumlungern, dann bedeutet das in unserem Fall nicht Promi- sondern Vogelalarm. Als Gemüsegärtner „off the grid“ (lerne: engl. für „Am Arsch der Welt“) sind Vögel kein Spaß, mögen sie auch schön bunt sein und noch so betörend trällern. Vögel fressen nicht nur Samen und Insekten. Sie finden auch Mais und Früchte lecker. Ob sie Erbsen, Tomaten und Gurken anpicken, wissen wir nicht. Wir haben leider keine Ahnung, welche Vögel hier in Kalifornien leben. Sicher ist sicher, lieber mal das stärkste Kampfgerät auffahren, das uns in den Sinn kommt: Die Vogelscheuche – oder auch „Schreckkrähe“ (engl. „Scarecrow“) genannt.
Das kann ja nicht so schwer sein, denke ich, und schaue im Internet nach Bauanleitungen. Dabei wird mir gleich klar, dass „normale“ Menschen meines Alters anderes zu tun haben, als Vogelscheuchen zu bauen. Diverse Bilder von Kinder- und Seniorengruppen mit selbst gebastelten Vogelscheuchen belegen das. Außerdem gibt es noch die Schreckkrähen-Künstler, deren Zeit-, Mühe- und Materialaufwand meine Fähigkeiten bei weitem übersteigen. Braucht kein Gärtner in Deutschland mehr eine Vogelscheuche? Dezent irritiert, Bilder von mit Stroh ausgestopften und mit selbstgenähten Kleidern herausgeputzten Schreckkrähen-Schönheiten im Kopf, schlappe ich zum Material-Lagerplatz unserer Ranch.
Vince, der Besitzer unserer Ranch und Herr über das Materiallager, haut gerade die Pfähle für den Hirschabwehr-Zaun unseres Gartens ein und erlaubt mir, eine Vogelscheuchen-Auswahl aus seiner Schatzkammer zu picken: Zwei runde Holzpfähle als Vogelscheuchen-Basis-Kreuz und einen Betonstein als Stabilisierung. Dazu hole ich noch einen alten Blumentopf aus unserem eigenen Vorrat, eine grüne Schnur für die Haarpracht und alte Klamotten aus der Scheune.
Ein Kreuz aus den Holzpfählen ist mit ein paar Schrauben und Winkelstücken schnell gebaut. Nun ist der Moment gekommen, mit dem das Schicksal meiner zu eng gewordenen, coolen Berlin-Jeans mit neckischen Trend-Nähten besiegelt wird. Auf die Stange mit ihr, Fransen ins Hosenbein geschnitten, mit einer Schraube an ihren letzten Platz gebohrt. Ein „Ach ja“ rutscht mir durch die Erinnerungen, die ich mit dieser Hose verbinde: Szenemäßig Kaffetrinken in einer Hauptstadt-Strandbar und dabei von wichtigen Geschäftsanrufen unterbrochen werden. Wer hätte das gedacht. Schreckkrähen bauen. Prioritäten setzen.
Ein weißes Polo-T-Shirt, das ich nie getragen habe, findet endlich seine letzte Ruhestätte außerhalb meines Schranks. Gekauft habe ich es für einen Job, von dem ich noch nicht wusste, wie wenig Spaß er bringen würde . Allerdings macht mir etwas Sorgen, dass sich selbst die Vogelscheuche nicht darin wohl fühlt. Was, wenn andere Schreckkrähen sie hänseln, weil sie obenrum so einfallslos ist? Hm. Ich glaube, hier gibt es gar keine anderen Schreckkrähen. Also, ab auf die Stange bzw. den Vogelscheuchen-Holzarm mit diesem Stück Vergangenheit und festgeschraubt.
Selbst der Gürtel, den ich als nächstes greife, weckt kurz Erinnerungen: Gekauft auf einem Maya-Markt in Guatemala, zu einer Zeit, als ich unbedingt aus Deutschland fort wollte. Nun bin ich fort, hatte es aber eigentlich nicht vor. Seltsames, schönes Leben.
Die wehenden Bänder, die den Vogelschreck und Krähenscheuch auslösen sollen, sind aus meinem Lieblings-T-Shirt, das mir immer „Du bist süß“ gesagt hat und beim Waschen eingegangen ist. Auch ein gehäkeltes Band von meiner Mutter ist dabei. Es gibt mir das Gefühl, dass sie ein bisschen da ist und Deutschland nicht so weit weg.
Die Kopfbedeckung ist ein alter Hut, auf dem noch der Aufkleber der „Emmeringer Bettelhochzeit“ klebt, einer bayerischen Fastnachts-Gaudi, die alle 11 Jahre in unserem alten Zuhause stattfindet.
Die Vogelscheuche mit einem Schuß Schreckkrähe ist nach zwei Stunden fertig.
Wie sieht ihre Welt aus? Starr schaut sie durch ihre im Wind flatternden, grünen Haare auf das, was sie beschützen soll. Vielleicht drehe ich sie mal um, damit sie ein wenig Abwechslung hat.
Wer ist sie wohl? Je mehr ich fotografiere, desto klarer wird, dass sie viele Gesichter hat. Sie könnte beispielsweise die „Herr-Der-Ringe-Schreckkrähe“ sein:
Oder meine beste Freundin auf einem Roadtrip:
Oder einfach nur ein harmloser Vogelschreck, auf dem sich bald gefiederte Gesellen niederlassen und Neuigkeiten untereinander austauschen. Für alle Fälle steht auch schon Kampfplan B: Ablenkungsmanöver durch Vogelfutter-Häuschen und Bestechung.
3. Mai 2015 um 8:17
Very nice…
hat was, die Scheuche, die windige.
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3. Mai 2015 um 9:38
🙂
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25. August 2015 um 23:13
Liebe Kirsten, lese seit einiger Zeit jeden Abend nachdem ich den ganzen Tag in meinem Garten, der eigentlich noch gar keiner ist, gewühlt habe in deinem Blog…. mit großer Freude. Eben habe ich deine Schreckkrähe bewundert, die ziemlich gutgelaunt zu sein scheint. Vielleicht schaffe ich es, bis zum Frühjahr mir auch eine solche Gesellin zu bauen. Liebe Gruß aus Räbel an der Elbe, Carmen
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26. August 2015 um 2:33
Liebe Carmen, … mein Blog hält Dich also noch ein klein wenig länger wach nach einem anstrengenden Gartentag 🙂 Ein schöneres Kompliment gibt es nicht! Mittlerweile ist die Schreckkrähe ziemlich ausgebleicht von der Sonne, ist aber immernoch gut gelaunt, hoffe ich. Viel Freude noch bei der Gestaltung Deines Gartens und vielleicht bald mit neuer Gesellin. Lieben Gruß aus Kalifornien, Kirsten
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